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Mach dein Glück nicht von Finanzieller Freiheit (FIRE) abhängig

Bist du bereits mit der FIRE-Szene vertraut? Hast du vielleicht auch schon aufwändige Excel-Tabellen gebaut, errechnest täglich deine aktuelle Sparquote und kennst deinen persönlichen „FIRE-Day“? Glückwunsch!

Falls dir diese Dinge nichts sagen, bist du ein FIRE-Noob. Eine Anfängerin. Ein Greenhorn. Ein Kiekindiewelt.

Keine Sorge, Aufklärung naht

Das Akronym FIRE steht für Financial Independence/Retire Early – also finanzielle Unabhängigkeit und vorzeitigen Ruhestand. Müsste eigentlich „Early Retirement“ heißen, aber „FIER“ klingt vermutlich zu sehr nach „fear“ (Furcht). Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist FIRE ein heiß diskutiertes Thema auf Finanzblogs und in verschiedenen Finanzmedien. Mittlerweile wurde das Konzept auch schon von einigen Boulevardmedien aufgegriffen, wie etwa hier durch Galileo.

Dabei dominieren in erster Linie Männer die FIRE-Szene. Kurioserweise waren es aber zwei Frauen, die den sparsamen Lebensstil salonfähig machten – namentlich Amy Dacyzyn (The Complete Tightwad Gazette*) und Vicki Robin (Your Money or Your Life*).

   

Grundsätzlich finde ich das Konzept hinter FIRE gut. Wenn sich Leute um ihre Finanzen kümmern und versuchen ihre finanzielle Situation in den Griff zu bekommen, kann ich dem nichts Schlechtes abgewinnen. Allerdings beobachte ich bei der FIRE-Bewegung auch einige negative Aspekte. Beispielsweise die Hardcore-Frugalisten, die jeglichen Konsum verachten und über andere urteilen. Das ist teilweise echt extrem, wenn man sich in entsprechenden Facebook-Gruppen oder Minimalisten-Foren umschaut. Kauft sich dort jemand ein zweites Paar Turnschuhe, ruft die FIRE-Gemeinschaft regelrecht nach dem Kapitalismus-Exorzisten. Oder direkt nach Kevin Kühnert.



In die zweite Kategorie der FIRE-Apostel gehören dann die „selbst-schuld“-Prediger. Diejenigen, die sagen, dass „man ja besser hätte planen können“, wenn sich andere in einer finanziellen Notlage befinden. Aber vielleicht gab es keine Zeit zum Planen oder zum Sparen. Oder diejenigen kannten das Konzept noch nicht. Haben vielleicht nie gelernt zu sparen. Woher auch? Aus der Werbung? Der Politik? Dem Umfeld? Da braucht es schon ein wenig Glück, dass man Eltern oder Freunde hat, die einem ein gewisses Sparverhalten vorleben. Oder man stolpert eben zufällig über entsprechende Finanzblogs.

Die dritte Kategorie der FIRE-Fetischisten besteht dann aus den „Machern“. Studierte, kinderlose Endzwanziger mit Sparquoten oberhalb der 50 Prozent. Einnahmen erhöhen durch einen Jobwechsel in eine andere Stadt oder ein anderes Land? Kein Problem! Ausgaben senken durch den Verzicht auf ein Auto oder durch das Hausen in einer WG? Easy! Ja, aber eben nicht für jeden. Mütter und Väter, Menschen die Teilzeit arbeiten um nebenher Angehörige zu pflegen. Menschen, die aufgrund von chronischen Krankheiten eingeschränkt sind. Menschen, die gute Arbeit leisten, aber trotzdem nur Mindestlohn verdienen. Wobei „verdienen“ der falsche Begriff ist. „Bekommen“ wäre richtiger.

Versteh mich bitte nicht falsch. Die Hardcore-Sparer machen ja nichts falsch, solange sie gleichzeitig noch Spaß am Leben haben. Aber ihr Konzept passt eben leider nicht für alle. Das sollten wir uns hier in unserer kleinen Finanzblog-Filterblase klarmachen.

Der potenzielle Stumpfsinn von FIRE

Einer der zentralen Grundsätze der FIRE-Bewegung ist die Ablehnung einer sinnlosen Konsumkultur. FIRE-Anhänger weisen (zu Recht) darauf hin, dass wir oft ohne nachzudenken Geld ausgeben. Einfach deshalb, weil wir von unserer Gesellschaft, Unternehmen und Medien dazu konditioniert wurden.

So weit, so richtig.



Allerdings kann die Konzentration auf Geld statt auf „Dinge“ auch eine andere Art von Gedankenlosigkeit auslösen. Anstatt zu überlegen, wie wir unser Geld ausgeben möchten, könnten wir letztendlich nur sinnlosen Konsum gegen sinnlose Geldanhäufung eintauschen. Dann wird das Streben nach einem höheren Bankguthaben ein höheres Ziel, anstatt das Geld für Waren oder Leistungen zu verwenden, um die eigene Lebenszufriedenheit zu verbessern.

„Sinnlose Geldanhäufung“ – Felix, jetzt spinnst du aber, oder?

Mit Nichten (und Neffen:innen)! Tatsächlich lässt sich oft eine Tendenz zu einer übereifrigen Sparsamkeit beobachten. Die kleinen FIRE-Streber sparen an Restaurant- und Kneipenbesuchen, Hochzeitgeschenken für Freunde, Verkehrssicherheit oder Komfort. Letztens hat in einer der besagten Facebook-Gruppen eine jungen Frau ein Foto ihres Wohnzimmers geteilt. Sie war ganz stolz, dass sie „alles Unnötige“ aussortiert und ihr Zimmer minimalistisch eingerichtet hatte. Ganz ehrlich? Da hat sogar das Hotel Bergmühle in Bansin hat mehr Charme.

Indeed, nicht Ingrid

Wenn die Sparsamkeit lediglich dem Zweck der sinnlosen Geldanhäufung dient, dann wird die Lebenszufriedenheit tendenziell eher sinken als steigen. Wie so oft ist wohl der Mittelweg der goldene. Weder die Jäger eines möglichst hohen Depotguthabens, noch die des übermäßigen Konsums werden ihr Leben wirklich genießen.

Wenn du genau hinschaust, wirst du bei einigen FIRE-Bloggern feststellen, dass sie kein wirkliches Lebensziel haben. Vor allem bei den jüngeren und denen, die noch nicht solange dabei sind. Okay, sie wollen „raus aus dem Nine-to-Five-Job“, wollen „flexibel und frei über ihr Leben entscheiden“ und wahlweise mit 30, 35 oder 40 in Rente gehen. Klingt alles cool, richtige Lebensziele sind das aber aus meiner Sicht nicht. Wofür also hängen sie so viel Energie und Zeit in ihr FIRE-Projekt? Wenn der Job keinen Spaß macht oder der Chef nervt, könnte man ja den Job wechseln oder?! Ingrid, äh Indeed, kann dir sicher dabei helfen.



Das Privileg der Sparsamkeit

Das verfügbare Einkommen ist vermutlich der größte Streitpunkt, wenn es um die Erreichbarkeit von finanzieller Freiheit geht. Tatsächlich verdienen viele FIRE-Bloggerinnen überdurchschnittlich gut. Manche vor allem durch ihren Blog, ihre Bücher und ihre Seminare. Ziemlich perfide. Es ist aber logisch, dass eine 30-prozentige Sparquote mit einem jährlichen Einkommen von 80.000 Euro einfacher erreichbar ist als mit 30.000 Euro. Vor allem für Arbeiter aus dem Niedriglohnbereich ist die FIRE-Bewegung so weit entfernt wie der FC Schalke 04 von der deutschen Meisterschaft. Für diese Menschen geht es nicht um vorzeitigen Ruhestand, sondern um die Vermeidung von Altersarmut. Und jetzt komm mir nicht mit „da müssen sie sich halt weiterbilden“ oder Mindset-Spartipps. Da hilft keine schöne Instagram-Grafik, welche die Kosten für Zigaretten mit einem ETF-Sparplan vergleicht. Völlig unsinnig.

Kurz gesagt: Extreme Sparsamkeit für ist für Gutverdiener vor allem ein Spiel als eine Überlebensstrategie. Ein schönes Ziel, aber ehrlich gesagt „Nice-to-Have“. Auf der anderen Seite (also unten), ist es für viele Menschen schlichtweg unmöglich, an diesem Spiel teilzunehmen. Wegen schlechteren Startbedingungen ins Leben, schlechterer Bildung, fehlenden Vorbildern und mangelhafter Finanzbildung. Leider verstehen das viele FIRE-Anhänger nicht.

Wette auf die glückliche Zukunft

Was mich aber beim FIRE-Konzept am meisten stört ist der Austausch von Zeit und Energie in der Gegenwart gegen Zeit und Glück in der Zukunft.

„Leben ist das was passiert, während Du dabei bist andere Pläne zu machen.“

Dieses bekannte Zitat ist von John Lennon (und der müsste es ja wissen). Bei aller Vorausplanung, Excel-Tabellen-Jonglage und Sparquoten-Algebra – das Leben macht manchmal was es will. Und nicht immer meint es das Schicksal gut mit uns. Ja, ich würde sogar die These aufstellen, dass ein Großteil der Hardcore-FIRE-Anhänger (also der wirklichen Frugalismus-Fetischisten) noch keinen persönlichen Schicksalsschlag miterlebt hat. Vielleicht würden sie sonst die kleinen Freuden des Lebens nicht verteufeln wie Olaf Scholz den Aktienmarkt.



Ein schönes Beispiel extremen Sparverhaltens sind auch hier die Kosten-Hochrechnungen. „Das kostet dich dieser Latte Macchiato in 30 Jahren“. Ja leck mich fett. Vielleicht trifft man beim Starbucks (oder bei Backwerk) die große Liebe, bekommt fünf Kinder und lebt müde und pleite, aber glücklich bis ans Lebensende. Vielleicht knüpft man beim Mittagessen in der Kantine gute Beziehungen zu Kollegen, anstatt mit der selbst geschmierten Knifte alleine im Büro abzulümmeln.

Verteufelt werden ja gerne auch „sinnlose Beschäftigungen“ wie Netflix schauen. Diese Zeit könne man ja viel effektiver nutzen – vor allem für den Aufbau eines lukrativen Nebenjobs. Side hustle heißt das. Keine Angst, hat nix mit produktivem Husten zu tun. Dafür aber auf jeden Fall was mit Internet, Amazon oder T-Shirts.

Zugegeben, das Konzept „Jetzt kaufen, später bezahlen“ ist unsinnig. Ökonomisch und ökologisch. In diesem Punkt gebe ich der FIRE-Bewegung völlig Recht. Allerdings treiben es einige zu sehr auf die Spitze, indem sie Genuss und Streaming moralisieren. Dabei haben wir das Recht heute und morgen glücklich zu sein. Warum nicht kleine Freuden und bewusste Ausgaben zulassen und gleichzeitig für die (unbekannte) Zukunft vorsorgen? Zugegeben, der Grat zwischen „Untergangs-Preppern“ und „Yolo-Halodris“ ist oft schmal.

Leben mit Intention

In der englischen Sprache gibt es das schöne Wort „intention“, welches wörtlich übersetzt „Absicht“ oder eben „Intention“ bedeutet. Leider werden diese Begriffe in der deutschen Sprache anders verwendet und sind tendenziell eher negativ belegt. Das englische „intention“ meint aber etwas viel Bedeutsameres. Es steht für ein persönliches Bewusstsein, für die aktive (Aus-)Wahl, für den Zweck des eigenen Handelns.

Das Leben nach dem FIRE-Konzept kann das eigene Leben verbessern und ihm mehr „intention“ verpassen. Und zwar in allen Bereichen – Familie, Freunde, Arbeit und Hobbies. Allerdings ersetzt es kein bewusstes und authentisches Leben.

Sorry, da hilft auch keine FIRE-Strategie.



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5 Gedanken zu „Mach dein Glück nicht von Finanzieller Freiheit (FIRE) abhängig“

  1. Hallo Felix,

    ein toller Beitrag und Recht hast du auch. FIRE ist ein Sammelbecken von Besserverdienern, die keine anderen Probleme mehr haben. Aktuell gehöre ich glücklicherweise auch zu den Leuten, für die FIRE eines Tages vielleicht Realität werden könnte. Wann auch immer es soweit sein wird. Denn mit Familie 10-15 Jahre in die Zukunft planen ist dann doch etwas zu optimistisch.

    Ich habe aber in meinem Umfeld genügend Leute, denen es finanziell nicht so gut geht, weswegen ich genau überlege, wem ich meine FIRE Gedanken alles auf die Nase binde.

    Was ich an der “FIRE-Community” schätze sind die Inspirationen, die man bekommt, wenn jemand ausnahmsweise mal nicht sein Coaching, sein Mindset oder seine Telegram Gruppe verkaufen will.
    Schließlich geben uns viele Blogger Einblicke in ihre Finanzsituation und ihre finanziellen Entscheidungen. Aus diesen kann man m.E. viel lernen und alle paar Tage können wir über dein Sammelbecken an Informationen so einen Beitrag finden.

    1.000 Dank dafür!

    Jens

  2. Schön gesagt und geschrieben! Ich finde es unglaublich wichtig, seine eigenen (Start-)bedingungen zu reflektieren. Mir geht dieses ganze Chackachacka-Mindset-Webinar-Anpreisen echt auf den Wecker. Klar, jeder kann sich (besser) um seinen Finanzen kümmern, aber nicht jeder wird Millionär oder Frührentner mehr. Das ist einfach die Realität und muss ja auch gar nicht das Ziel sein.

  3. Hallo Felix,

    in deinem Artikel konnte ich viele Dinge wiederfinden, die mir auch bei den Hardcore-Fireianern aufstoßen. Viele sind in ihren 20ern und haben tatsächlich keinen Schimmer davon, welche Haken das Leben schlagen kann.
    Auch diese Sparquoten-Olympiade nervt und erinnert mich an die 100-Things-Challenges unter Minimalisten der 2010er Jahre. Ganz ehrlich: Wenn sich die Ultras unter den Frugalisten unterhalten, dann denke ich immer an Flagellanten, die darin wetteifern, wer sich am härtesten und blutigsten selbst geißelt.
    Die Krönung ist es aber, wenn du Leute aus der Frugalistenelite in deinem Freundeskreis hast. Da kommt nämlich etwas zum Vorschein, was mich auch an der Grundhaltung dieser Ultraorthodoxen stört, wonach Konsum verteufelt wird, aber die eigenen Dividendenkracheraktien oder der Allworld-ETF gerade darauf aufbauen, dass Menschen möglichst viel konsumieren. Im Freundeskreis legen sie diese unterschiedlichen Maßstäbe dann auch an den Tag, wenn es etwa darum geht, wer Spritkosten übernimmt, wer sich in welcher Höhe an Geburtstagsgeschenken oder Restaurantrechnungen beteiligt, oder auch einmal zu sich nach Hause einzuladen. Frühr hatte man für solche Herrschaften ein passends Label – Nassauer. Weniger schmeichelhaft wurden sie auch Geizhälse genannt. Wenn FIRE-Frugalismus in Geiz umschlägt ist der Zeitpunkt gekommen, die Reißleine zu ziehen. Dann scheint mir nämlich der Charakter, die Psyche und das eigene Glück Schaden zu nehmen, der durch keine vermeintliche Freiheit eines fernen Tages aufgewogen werden kann.

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